Im Interview mit der EishockeyNews hat DEB-Sportdirektor Christian Künast ein Fazit der zurückliegenden WM gezogen. Dabei gibt der 54-Jährige Einblicke in die Aufarbeitung und Analyse des Turniers, die in den vergangenen Wochen seit dem Turnierende stattgefunden hat. Und er verrät, wem er im WM-Finale die Daumen gedrückt hat.
Herr Künast, wie lange haben Sie gebraucht, um die Enttäuschung über das WM-Vorrunden-Aus zu verarbeiten und in den Analysemodus übergehen zu können?
Christian Künast: „Die Enttäuschung ist normal, sonst wären wir in unserem Sport fehl am Platz. In den letzten fünf Jahren konnte ich in mein Fazit immer den Satz schreiben, dass das Viertelfinale für Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist. Dieses Jahr kann ich ihn leider nicht reinschreiben – aber er hilft mir, weil ich unser Abschneiden dadurch einordnen kann. Am Dienstag habe ich einen großen Termin mit Harry (Bundestrainer Harold Kreis; Anm. d. Red.), bei dem wir alles nochmal final durchgehen.“
Überlassen Sie den Austausch mit den Spielern im Nachgang einer WM denn komplett dem Bundestrainer, oder suchen Sie auch selbst die Gespräche?
Christian Künast: „Harry macht den Großteil, das ist auch seine Aufgabe. Aber auch ich spreche mit dem einen oder anderen Spieler. Da geht es aber mehr darum, wie die Spieler gewisse Dinge in der Zusammenarbeit wahrgenommen haben. Das Inhaltliche, Taktische, Sportliche bespricht Harry mit ihnen. Für mich ist es auch wichtig, dass ich nach der WM ein bisschen abwarte. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass zwei, drei Tage nach dem Turnier vieles noch frisch ist, was sehr positiv oder jetzt eben negativ scheint. Wenn man es etwas sacken lässt, ergibt sich mitunter ein differenziertes Bild.“
Welche Hauptgründe für das Aus in der Vorrunde haben Sie bei Ihrer Analyse ausgemacht, die Sie am Dienstag mit dem Bundestrainer besprechen werden?
Christian Künast: „Mein großer Punkt bleibt die Kompaktheit, die Deutschland in den letzten Jahren immer ausgezeichnet und diesmal gefehlt hat. Damit meine ich einfach, in allen Zonen über 60 Minuten kompakt aufzutreten. Wir haben schon in den ersten drei Spielen, die wir gewonnen haben, gesehen, dass wir durch unsere fehlende Kompaktheit Chancen zugelassen haben, vor allem gegen Norwegen.“
Welche Schwächen haben Sie außerdem festgestellt?
Christian Künast: „Mein zweiter Hauptpunkt ist die Geradlinigkeit in der Offensive. Wir waren nicht so gefährlich wie in den letzten Jahren, weil der erste Gedanke nicht Torabschluss war, sondern ein Pass, wenn wir über die blaue Linie gekommen sind.“
Wäre es in der Gruppenphase einfacher gewesen, einen der „Großen“ früher zu haben bzw. nicht alle hohen Hürden am Stück im Gruppenendspurt?
Christian Künast: „Es wäre wirklich hilfreich für uns gewesen, wenn wir einen anderen Start bekommen hätten. Es ist aber kein Wunschkonzert. Wir haben auch dieses Mal viel versucht, auf den Spielplan einzuwirken. Zum Beispiel hatte Dänemark zwei Tage frei vor dem Spiel gegen uns. Aber das ist eben das Recht des Veranstalters. Und sie haben das bewusst so gelegt und haben alles richtig gemacht. Dann waren wir dieses Mal im Nachteil.“
„Keiner muss allein die Verantwortung übernehmen“
Machen Sie die fehlende Kompaktheit auch am Fehlen von defensiven Schlüsselspielern wie Kai Wissmann und Moritz Müller oder Zwei-Wege-Center Nico Sturm fest?
Christian Künast: „Kompaktheit ist ein Puzzle aus mehreren Teilen. Es hat schon auch mit den Spielern zu tun, die nicht dabei waren, aber es ist überall so, dass der eine oder andere Spieler mal vermisst wird. Die Mannschaft war trotzdem sehr, sehr gut aufgestellt. Im Silberjahr war die Kompaktheit über das ganze Turnier vorhanden, auch bei den Niederlagen. Auch im Jahr darauf in Ostrava war sie in großen Teil des Turniers vorhanden. Dieses Jahr hatte ich dieses Gefühl von Anfang an nicht.“
Hat es auch eine Rolle gespielt, dass einigen der jüngeren Führungsspieler schlicht noch die Erfahrung fehlt, um die Dinge in schwierigen Phasen eben nicht alleine lösen zu wollen?
Christian Künast: „Das ist absolut richtig. Irgendwann kommt für jüngere Spieler, die eine Führungsrolle übernehmen, einfach der Punkt, an dem sie diese Erfahrung machen müssen. Und die Erfahrung dieser knappen Entscheidung, im letzten Spiel über das Penaltyschießen nicht ins Viertelfinale zu kommen, wird uns für die Zukunft und auch den einzelnen Spielern in ihren Karrieren helfen.“
Dass sich speziell Tim Stützle und Moritz Seider als junge Führungsspieler und Stars aus der NHL selbst viel Druck auferlegt haben, war über die gesamte WM zu spüren. Was nehmen Sie und der Bundestrainer daraus für den Austausch mit den NHL-Profis mit?
Christian Künast: „Da muss ich fast ein bisschen schmunzeln, denn es war sowieso bei jedem Treffen auch Teil unseres Gesprächs, dass sie nicht allein die Last tragen müssen. Mit den beiden haben wir das sogar während des Turniers nochmal besprochen. Aber ich nehme durchaus mit, vielleicht noch mehr, noch konkreter und anders einzuwirken, um diesen Druck wegzunehmen. Ein Stück weit wird es aber immer so bleiben. Das sind Spieler, die auch deshalb da sind, wo sie sind, weil sie Verantwortung übernehmen und sich einbringen wollen. Ich nehme einmal Tim Stützle. Er kommt aus seiner ersten Playoff-Erfahrung mit Ottawa und war eine Zielscheibe in dieser Serie, was klar ist, weil er einer der besten oder sogar der beste Spieler von Ottawa ist. Trotzdem kommt er dann zu uns und will unbedingt Verantwortung übernehmen, auch wenn viele Leute zu ihm sagen, dass er nicht der Alleinverantwortliche ist. Das ist ein Lernprozess – für den Spieler, aber durchaus auch für uns, um noch gezielter darauf einzuwirken, dass es nicht so läuft.“
Mit Lukas Reichel verlor das Team früh einen zentralen Teil der Offensivproduktion: Nach seiner Verletzung entstand der Eindruck, dass nicht nur seine individuelle Klasse gefehlt hat, sondern auch die Chemie der Angriffsformationen nie mehr so gut wurde wie in den ersten drei WM-Matches…
Christian Künast: „Der Ausfall hat uns in allen Aspekten wehgetan. Bei Lukas hatten wir schon gesehen, dass es läuft und seine Reihe funktioniert – und dann beginnst du plötzlich zu bauen. Es war dann schon eine kleine Reihensuche.“
Fotos: City-Press
„Die Schweiz wäre jetzt dran gewesen“
Ein Spieler, der immer funktionierte bei der Nationalmannschaft zuletzt, ist Wojciech Stachowiak, der jetzt einen NHL-Vertrag bei den Tampa Bay Lightning als Lohn dafür bekam. Ein paar Worte über ihn und zu seiner Entwicklung insgesamt.
Christian Künast: „Während der WM hatte ich ein Gespräch mit Mathieu Darche (ehemaliger Assistent General Manager der Tampa Bay Lightning, jetzt General Manager der New York Islanders, Anm. d. Red.). Er hatte mich explizit nach Stachowiak gefragt. Das war ein interessanter Austausch, in dem ich Stachowiak gelobt habe und anmerkte, es sei wert, einem Spieler wie ihm eine Chance in der NHL zu geben. Natürlich ist ein Vertrag nicht automatisch eine Garantie, es auch in die NHL zu schaffen. Aber es freut mich, wenn Nationalspieler diesen Sprung nach Nordamerika überhaupt wagen, unabhängig vom Abschneiden des Nationalteams. Das zeigt den Stellenwert des deutschen Eishockeys.“
Eine der Entdeckungen schon unter der PENNY-DEL-Saison war Korbinian Geibel, der das auch bei der Nationalmannschaft bestätigt hat…
Christian Künast: „Dass er so auf diesem Level während der WM weitermacht, hatte ich vielleicht nicht ganz erwartet. Und es freut uns natürlich auch, dass Spieler, die man vielleicht dieses Jahr oder letztes Jahr noch nicht auf dem Zettel hatte, dann nächstes Jahr für uns Kandidaten sind. Das zeigt, dass wir weiter sind als vor zehn Jahren.“
Und es zeigt auch den Spielern im Umkehrschluss, dass man auch die Chance noch bekommt, wenn man nicht schon seit drei, vier Jahren irgendwie im Kreis der Nationalmannschaft dabei war…
Christian Künast: „Also es wäre vermessen zu sagen, dass wir eine Nation sind, die sagen kann: ‚Das ist unser Kreis und da kommt keiner rein.‘ Da sind wir halt nicht so weit wie andere Nationen, auch nicht so weit wie die Schweizer. Die Schweizer sind da breiter aufgestellt, weiter als wir im Seniorenbereich. Da ist bei uns noch Luft nach oben. Aber es ist viel besser, als es zu meiner Zeit war oder vor 2015.“
Aufs Turnier insgesamt geblickt: Inwiefern haben Sie den Verlauf noch verfolgt nach dem Aus des DEB-Teams?
Christian Künast: „Ich habe tatsächlich fast jedes Spiel nachher noch gesehen, also auch beide Halbfinals, das Spiel um Platz drei für ein Drittel und das Finale fast ganz. Ich bin ein bisschen eingeschlafen zwischendrin, weil es so spät war – ich bin wirklich ein Früh-zu-Bett-Geher. (lacht). Ich war dann aber wieder wach im letzten Drittel und zur Overtime.“
Was sagen Sie zum neuen Weltmeister?
Christian Künast: „Es war schon ein überraschender Weltmeister. Eine sehr gute Mannschaft aus NHL-Spielern, logisch, aber sie hat sich unter dem Turnier entwickelt. Und die USA haben diese Kompaktheit gehabt. Im Halbfinale gegen Schweden waren Szenen dabei, die mich an die goldenen Zeiten der Finnen erinnert haben.“
Wie sehen Sie den erneuten Vizeweltmeistertitel der Schweiz?
Christian Künast: „Die Schweiz wäre dran in meinen Augen. Ich habe einen Whats-App-Verlauf mit Lars Weibel (Anm. d. Red.: Direktor für die Schweizer Nationalmannschaften), in dem wir vor drei Jahren geschrieben hatten, dass einer aus unserem Nationenkreis auch Weltmeister werden kann. Und mir tun die Schweizer selten leid – das gehört dazu, glaube ich, zu unserer Rivalität. Aber mir hat es diesmal wirklich leidgetan.“
Wo steht das deutsche Team im Vergleich mit den angesprochenen Teams?
Christian Künast: „Wir sind Achter in der Weltrangliste, in der neuen auch – und da gehören wir hin. Es braucht nicht viel, mal gegen die Nummer zehn, elf, zwölf, 13 zu verlieren – und dementsprechend auch einen Viertelfinalplatz zu verpassen. Es ist uns aber auch durchaus möglich, mal die Nummer eins, zwei, drei, vier oder fünf zu schlagen.“
Gibt es einen Fortschritt in Sachen Vertragsverlängerung mit Harold Kreis als Bundestrainer?
Christian Künast: „Wir hatten, das kann ich auch durchaus offen sagen, ein loses Gespräch, wie wir weiterkommen wollen. Im Juli setzen wir uns zu einem weiteren offenen Gespräch zusammen mit den Fragen: Was wollen beide Seiten? Haben beide Seiten schon einen klaren Plan?
Bis wann soll diesbezüglich eine Entscheidung gefallen sein?
Christian Künast: „Am liebsten wäre es mir schon, wenn es vor der nächsten WM durch ist. Ein gutes Fenster für die Entscheidung ist also zwischen Olympia und WM im nächsten Jahr. Später sollte es nicht sein. In dem Bereich, in dem wir arbeiten, sind ja alle Ergebnisse von heute Makulatur, wenn irgendwas in eine andere Richtung geht. Der Plan ist, finde ich, vernünftig: Im Juli ein erstes Gespräch, dass wir einmal die Denkweisen abgleichen, und uns dann über das Eishockeyjahr hangeln.“
Zum Abschluss ein aktueller Blick nach Nordamerika. Marco Sturm wurde zum Headcoach der Boston Bruins ernannt. Was geht bei solch einer Nachricht durch den Kopf?
Christian Künast: „Wir freuen uns über die Nachricht, die uns aus Boston erreicht hat. Marco hatte in seiner Zeit als Bundestrainer einen großen Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Eishockeys. Er ist maßgeblich verantwortlich, dass sich das „Mindset“ in der deutschen Nationalmannschaft gewandelt hat, hin zu einem Team, das an sich glaubt. Das war die Basis für unseren gemeinsamen Silbermedaillen-Erfolg 2018 und hat sich auch nach seiner Amtszeit fortgesetzt. Wir wünschen Marco viel Erfolg bei den Bruins.“