Den Satz – „Aus dem wird doch eh nichts“ – hat im Sport, aber genauso in anderen Lebensbereichen jeder schon einmal gehört. Für dieses (Vor-)urteil interessiert sich auch Prof. Dr. Ansgar Thiel. Er forscht auf dem Gebiet des Spitzensports; an der Schnittstelle zu Soziologie, Gesundheit und Psychologie.
Thiel kommentiert die Aussage zunächst mit der Einschätzung, dass „Trainer Erfahrungsmuster aus jahrelanger Praxis haben“. Er stimmt damit einerseits den Trainern und Experten teilweise zu, aber relativiert die Haltung mit seinen eigenen Erfahrungen, die er in seinem Fachgebiet gemacht hat: „Talententwicklung verläuft nicht linear“. Thiel fordert in diesem Zusammenhang eine größere Sensibilität der Trainer, um zu verstehen, dass sich nicht jeder junge Athlet gleich schnell entwickelt. „Motivationslagen können und Motivation kann sich verändern, genauso wie sich motorische Begabung verändern kann. Wenn ich sie nicht fördere, verkümmert sie“, sagt Thiel in Folge 11 des DEB-Podcasts „Coach the Coach“.
Außerdem betont er, dass Talent nicht nur als eine Eigenschaftszuschreibung gesehen werden darf, sondern dass als wichtiger Aspekt auch „das Umfeld miteinbezogen werden muss“. Thiel geht noch weiter, indem er sagt: „Talent ist im Grunde ein System. Angefangen von der Begabung bis hin zur Lebenswelt, in der man sich befindet.“ Auch körperliche und motivationale Voraussetzungen schließt er mit ein. „Ein System, in dem sich diese unterschiedlichen Faktoren gegenseitig bedingen“, fasst Thiel zusammen. Die Entwicklung verlaufe sogar innerhalb dieser Dimensionen unterschiedlich. Es gebe also bei jedem Einzelnen auch Differenzen hinsichtlich biologischer, psychologischer oder sozialer Entwicklung.
Wichtig sei es daher, unterstreicht der Direktor des Instituts für Sportwissenschaft in Tübingen, dass Trainer diese Ungleichmäßigkeit erkennen, um an der richtigen Stelle eingreifen zu können und Athleten, die in der Entwicklung stocken, nicht zu verlieren. „Wenn der Trainer diese Asynchronität und Multidimensionalität von Entwicklung und von sozialen Anforderungen des Spitzensportsystems nicht beachtet, dann kommen ganz oft Überlastungsprobleme heraus.“ Thiel verdeutlicht dieses Dilemma am Beispiel eines jungen Athleten, der nicht so schnell wächst wie die anderen und dadurch viel mehr trainiert, als es seiner Entwicklung entspricht.
Trainer müssten sich auch anderweitig umstellen, vor allem im Umgang mit der Gesundheit im Nachwuchsleistungssport, moniert Thiel. „Ein großer Risikofaktor ist die Bereitschaft, verletzt in einen Wettkampf zu gehen oder Schmerzen zu verschweigen, aufgrund zu hohen Drucks des Umfelds seitens des Trainers“, sagt der hoch angesehene Wissenschaftler. Er fordert, „ein Klima zu schaffen, das es den Heranwachsenden zulässt, Beschwerden oder was sie bedrückt zu äußern“. Autoritäre Systeme würden bei den Athleten nicht mehr so gut funktionieren und zu Problemen führen. Die Alternative passt nach seiner Ansicht besser in den Zeitgeist. „Wir brauchen einen eher demokratischen Führungsstil“, regt Thiel an, „um die Athleten das Bewusstsein zu geben, mitreden zu können.“ Zudem müsse man „die Widerstandsfähigkeit der Athleten fördern“. Während Sportler früher nach einer Verletzung, während der sich kein Trainer gemeldet hat, wieder zurückgekommen sind, gehen sie heutzutage eher an dieser Nicht-Berücksichtigung kaputt.
„Trainer dürfen sich nicht mehr nur um die Leistungen ihrer Athleten kümmern, sondern müssen auch für den Menschen an sich da sein“. Talententwicklung ist eben komplex.
Hier geht’s zur Podcast-Folge mit Prof. Dr. Ansgar Thiel.